Jüdische Studien in Deutschland im Überblick
Die Judaistik - bzw. im internationalen Sprachgebrauch Judaic Studies - hat die Erforschung und Darstellung des Judentums in allen seinen geschichtlich gewordenen Erscheinungsformen zum Gegenstand. Im angelsächsischen Raum wird sie auch Jewish Civilization genannt und umfasst heute dementsprechend die Religions-, Kultur-, Philosophie- und Literaturgeschichte sowie die allgemeine Geschichte des Judentums von seinen Anfängen bis zur Gegenwart (einschließlich der Diaspora) sowie die hebräische Philologie (Hebraistik). Die Judaistik versteht sich – ähnlich wie die Islamwissenschaft – als eine philologisch und historisch arbeitende Disziplin, die kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze integriert und zugleich (religions-) vergleichend arbeitet.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum entstand im Kontext der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert als Versuch, die wissenschaftliche Selbstdarstellung des Judentums im Rahmen Jüdisch-Theologischer Fakultäten zu etablieren sowie Rabbiner an deutschen Universitäten ausbilden zu können. Die ablehnende Haltung der deutschen Universitäten diesem Versuch gegenüber führte dazu, dass sich die Jüdischen Studien zunächst in Rabbinerseminaren und Jüdisch-Theologischen Hochschulen wie beispielsweise dem Jüdisch-Theologischen Seminar Breslau (1854-1938) oder der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1872-1942) bis zur Auflösung durch die nationalsozialistische Diktatur entwickelten. In dieser Tradition stehen die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (eröffnet 1979) und das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam (gegründet 1999). (Aus: Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 29. Januar 2010, S. 31f.)
Die Judaistik dient der vorrangig philologisch orientierten Beschäftigung mit dem Judentum, die später entstandenen, interdisziplinär orientierten Jüdischen Studien haben eine eher kulturhistorische Ausrichtung. Beide analysieren und erforschen die 3000-jährige Geschichte und Gegenwart des Judentums in seinen vielfältigen religiösen, kulturellen, intellektuellen, wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen. Judaistik und Jüdische Studien sind säkulare Disziplinen und werden in Deutschland zumeist von Nichtjuden unterrichtet, teilweise sogar in einem christlich-theologischen Kontext.
Jüdische Theologie dagegen ist konfessionell gebunden, wird von jüdischen Hochschullehrern unterrichtet mit dem Berufsziel des geistlichen Amtes: Rabbiner (-in)/Kantor (-in). Deshalb ist bei der Jüdischen Theologie auch die Mitwirkung der Religionsgemeinschaft erforderlich. Rabbiner Louis Jacobs (1920-2006) hat den Unterschied zwischen der bekenntnisbezogenen Jüdischen Theologie und anderen jüdischen Studien am Beispiel der jüdischen Geschichte anschaulich gemacht: „Die jüdische Theologie unterscheidet sich von anderen Gebieten jüdischer Gelehrsamkeit dadurch, dass, wer sie betreibt, innerlich der Wahrheit, die er zu ergründen sucht, verpflichtet ist. Es ist zum Beispiel möglich, jüdische Geschichte völlig unbeteiligt zu studieren. Der Historiker, der über jüdisches Gedankengut, über das jüdische Volk oder jüdische Institutionen arbeitet, muss nicht unbedingt den Wunsch verspüren, mit seiner Lebensführung die Ideale des Judentums auszudrücken. Er muss nicht einmal Jude sein. … Während der Historiker aber danach fragt, was sich in der Vergangenheit des jüdischen Volkes ereignet hat, stellt der Theologe die persönliche Frage, welche Elemente der überlieferten jüdischen Religion hier und heute sein Leben als Jude noch bestimmen. Der Historiker benutzt sein Fachwissen, um nachzuweisen, was die Juden früher geglaubt haben. Der Theologe lässt sich auf die schwierige, für den, der sie erkannt hat, aber auch gewichtigere Aufgabe ein, herauszufinden, was ein Jude in der heutigen Welt zum Inhalt seines Glaubens machen kann.“ (Louis Jacobs, Was ist jüdische Theologie, 1973)